Bildgeschichten

Das rote Boot im Eis

„Eingeschlossen im Eis ruht das rote Boot, lange nach seiner letzten Reise immer noch erfüllt von einer Sehnsucht nach Aufbruch, gleich einer Hoffnung, die nicht bereit ist zu scheitern.“

Im Winter des Jahres 2019 führte mich der Weg nach Island und Grönland. Beide Länder schon bereist wollte ich sie jetzt im Licht der Winterlandschaft fotografieren. Im Sommer 2014 kam ich zum ersten Mal nach Tassilaq. Ich kam in Kontakt zum Roten Haus und lernte, im Gefolge der sommerlichen Touristenscharen Robert Peroni, wenn auch flüchtig, kennen. Mit seinem lobenswerten Projekt, über den Tourismus einer Gruppe von Inuit eine Lebensgrundlage und Zukunftsperspektive in ihrer von starken Umbrüchen und Verwerfungen gekennzeichneten Lebenswelt zu geben und so vor Untergang und Vergessen zu retten, sticht er aus einer in großen Teilen von Agonie, Verzweiflung und Lebensmüdigkeit geprägtem gesellschaftlichen Umfeld heraus.

So sind den Inuit auch unsere Gedanken zu einem sorgsamen Umgang mit unseren Gütern und der Umwelt fremd, nicht weil der Umweltfrevel von alters her Teil ihrer Kultur war, sondern weil man all seine Besitztümer der Natur entnahm und sie nach ihrem Verbrauch an diese zurückgab. Bei wenigen Menschen und Gütern, die über ihre Verrottung in den Kreislauf der Natur zurückkehren konnten, war dies kein Problem. Im Rahmen von festen, gemeinschaftlichen Siedlungen und mit den Gütern unserer modernen Industrieproduktion wird es zu einem Problem. Die Dinge werden dort stehen und liegen gelassen, wo man sich gerade aufhielt, als man ihres Besitzes überdrüssig wurde. In diesem Kontext ist auch das rote Boot zu sehen.

Als ich es zum ersten Mal 2014 im Sommer auf Grund gesetzt am felsigen Ufer in der Bucht von Tassilaq im weichen Abendlicht erblickte, wie es so da lag im silbrigen Blau der leicht gekräuselten See, in seiner leichten Schieflage, die ihn zusammen mit dem Rot seines Rumpfes eine gewisse Dynamik und Lebendigkeit verlieh, da wirkte es verletzlich und verletzt, aber doch nicht zerstört, eher von der Erwartung erfüllt, ein neuer Besitzer könnte sich seiner Annehmen, es Instand setzen, es würde wieder Fahrt aufnehmen und seinem Kurs hinaus auf den Ozean nehmen.

Fünf Jahre später, es ist ein von leichtem Schneefall und Nebel verhangener Tag im Februar. Der Weg zum Boot führt steil herunter vom Roten Haus zum Ufer. Die Wege sind glatt und rutschig vom schnellen Wechsel von Schneefall und Tauwetter mit Regen. Es ist ein ungewöhnlich milder Winter für Grönland, der die Temperaturen hier unten am Meer nur selten in den zweistelligen Minusbereich sinken lässt. Die letzte Strecke führt durch höhere Schneewehen. Das Ufer selbst bleibt unkenntlich im Übergang vom Schnee zum Eis.

Da liegt es nun, das Boot, eingeschlossen im Eis, eingerahmt durch gebrochene und aufgeworfene Eisschollen. Die Umgebung und die Berge auf der anderen Seite der Bucht verlieren sich im Dunst des Schneenebels. Das Boot selbst hat in diesen Jahren nur wenig an Substanz verloren: ein wenig Holz der Aufbauten und der Beplankung. Die mit einem Giftgrün gesprayte Aufschrift „kein WC“ zeigte einen sicher gut gemeinten Versuch, das Boot vor weiterem Vandalismus zu schützen.

Der Winter und das Eis scheinen die im Sommer empfundene Dynamik und Lebendigkeit nur eingefroren zu haben, nicht aber ausgelöscht. Die Zeit scheint zu ruhen und mit ihr auch die Energie, aber durch die vermeintliche Erstarrung scheint doch immer noch die Sehnsucht des roten Bootes nach Aufbruch hindurch. Obwohl ja eigentlich Wrack und damit seeuntauglich, scheint das Boot dies doch als nur temporären Zustand anzusehen, wartend auf den, der es aus diesem Zustand wieder heraus führen wird. Wurde Caspar David Friedrichs Schiffswrack im Eis, von ihm imaginiert und nie wirklich gesehen, und weil wohl als Metapher auf das Ausbleiben und Scheitern notwendiger gesellschaftlicher Veränderungen, auch als ein Scheitern der Hoffnung gesehen, was im Nachhinein  im Kontext der späteren gescheiterten Franklin Expedition zur Entdeckung der Nord-West-Passage sicher nachvollziehbar war, so zeigte doch schon die Südpol-Expedition von Ernest Shackleton nur ein halbes Jahrhundert später, dass im Scheitern auch immer die Chance zu seiner Überwindung angelegt sein kann und dass der Drang des Menschen, Grenzen zu erweitern und zu überwinden, nie verloren gehen wird.

So hoffe ich, dass das rote Boot noch viele Jahre erfolgreich in Wasser und Eis verharren wird und vielleicht eines nicht zu fernen Tages jemand von ihm Besitz ergreift, der es, Grenzen überwindend, zu einem neuen, zweiten Leben hinaus auf das Meer steuert. 

Michael Priebe im Juni 2020

Schiffswrack in Tassilaq

Monument La France – Briançon

Monument La France – Briançon

Es ist der Sommer 2003. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, wird es der Hitzesommer des neuen Jahrhunderts sein. 75.000 bis 100.000 Hitzetote in Frankreich, Spanien und Italien. Genau wird man es nie erfahren. Aber es ist ein erster brutaler Fingerzeig des sich abzeichnenden Klimawandels. Auch ich spüre die Hitze. Ich habe in der Haute-Provence auf einem Camping-Platz mein Zelt aufgeschlagen. Gut 1000 Meter über dem Meeresspiegel. Dennoch Tagestemperaturen von mehr als 35 Grad, tropische Nächte, die mich früh am Morgen aus dem Zelt treiben. Im Schatten der Bäume lässt sich lesend die Hitze des Tages ertragen. Der Pool am Nachmittag mit seiner Kühle leitet über zum abendlichen Menü und der leichten Frische der aufkommenden Nacht.

Aber eigentlich will ich ja auch fotografieren. Der Bewegungsradius des mitgeführten Mountainbikes erweist sich in Anbetracht der Temperaturen als zu klein. So also schwerpunktmäßig mit dem Auto. Nachdem über das kurz geöffnete Schiebedach die heiße Luft schnell ihren Weg nach draußen gefunden hat, kühlt die Klimaanlage das Fahrzeug schnell auf erträgliche Temperaturen herab. 

Mit zunehmender Höhe sinkt bekanntlich zwangsläufig die Außentemperatur. So führt mich einer meiner Wege hinauf in die französischen See-Alpen. In Höhen zwischen 2000 und 3000 Meter muss es erträglicher sein. Der Col de la Bonette, 2715 Meter, das Außenthermometer zeigt 25 Grad, in Verbindung mit einem leichten Wind ergibt sich eine angenehme Kühlung. Leider sind die Gipfelpunkte der Passstraßen oft fotografisch unergiebig, da sie zwar ein wunderbares Panorama offerieren, aber zumeist keine Akzente im Vordergrund bieten, welche für einen spannungsreichen Bildaufbau unerlässlich sind. 

Anders war es bei der Fahrt nach Briançon. Mit seiner Höhe von 1200 bis 1326 Metern bot es leider nicht eine vergleichbare Sommerfrische wie der Pass. Die historische Altstadt und die Festungsanlage von Vauban sind der heute noch sichtbare Ausdruck seiner wechselvollen und oft dramatischen Geschichte, welche aus der Römerzeit über die Hugenotten bis zum 2. Weltkrieg reicht. Die Zitadelle mit ihren scharf geschnittenen kubischen Formen, deren Tiefenführung und räumlicher Stafflung versprach fotografische Herausforderung. Und hoch oben auf dem anthrazitfarbenen Felsen, thronte, kaum auszumachen in seinem etwas wärmeren Hellgrau, das Haupt der Festungskonstruktion. An seiner äußersten Spitze, vor die Festungsmauern gesetzt, eine Bronzestatue, mit ihrer matten grünen Patina der einzige farbliche Kontrast zusammen mit dem dunklen Blau des Himmels. Hoch ragt sie auf, die schlanke Figur, wohl zusammen mit einer Lanze. Aus dieser Perspektive tritt sie in einen zweifelhaften Kontrast zu einem sie weit überragenden Mobilfunkmast, der aus dem inneren der Festungsmauern hervorsticht.

Über das Tal sticht, sich durch ein erstes fernes Grollen kenntlich machend, ein für die schwüle Hitze nicht ungewöhnlich, Gewitter heran. So eile ich durch die bereits menschenleeren Straßenzüge der Festung hinauf zum Gipfel der Festung. Durch eine Nische heraustretend erblicke ich sie, die schlanke, weibliche Figur, den Leib verhüllt von einem weiten Gewand, an dem sich eine kraftvolle Schlange emporreckt. Ihr Blick ist in die Ferne gerichtet. Der linke Arm ist angewinkelt erhoben, um mit der Hand die Augen vor der einfallenden Sonne zu schützen. In der Rechten hält sie eine Lanze, die sie weit überragt. Ein dreistufiger Sockel hebt sie weit über den Betrachter hinaus, der selbst zuvor einen turmartigen Unterbau mit schmiedeeisernem Geländer erklimmen muss, um überhaupt in diese Position zu gelangen.

Die Geschichte dieses Monuments bleibt für mich in diesen Momenten unerschlossen. Bestimmend sind die fotografische Erfassung und Nutzung dieses Augenblicks, der schnell vorüber streicht. Das strahlende Gegenlicht der nachmittäglichen Sonne wird schnell verdunkelt durch die heranziehende Gewitterfront, in deren Folge wolkenbruchartiger Regen das Fotografien unterbinden wird.

Eine dieser Fotografien, die hierbei noch klassisch analog entstehen ist das hier vorliegende.

Aber zunächst zur Geschichte des Monuments, die im Jahre 1922 als ein Projekt beginnt, in dessen Folge dieses Monument an verschiedenen Orten in Frankreich errichtet wird. In diesem Jahr beschloss die französische Regierung, den amerikanischen Truppen, welche Frankreich im 1. Weltkrieg im Kampf gegen Deutschland beistanden, als Dank für diese Unterstützung ein Denkmal zu errichten. Eine denkmalbezogene Beziehung zwischen Frankreich und den USA gab es bekanntlich seit der Freiheitsstatue in New York, ein Geschenk Frankreichs an die junge Demokratie auf der anderen Seite des Atlantiks.

Für die Aufstellung dieses Denkmals wurde ein symbolischer Ort gewählt: Le Verdon-sur-Mer, jener Hafen, von dem aus La Fayette und seine Truppen 1777 nach Amerika abreisten und 1917 die amerikanischen Truppen anlandeten.

Von zwei Architekten, Ventre und Damour, kam hierzu der Vorschlag, einen Leuchtturm als Verkörperung Frankreichs zu bauen, der den Alliierten entgegen leuchten und ihnen den Weg weisen sollte.

Für die Ausführung war der bekannte Bildhauer Bartholomé im Gespräch, der, vielleicht aus Gründen von Arbeitsüberlastung, den Auftrag an seinen Kollegen Antoine Bourdelle weiter reichen wollte. Dieser ließ sich allerdings erst mit dem Verweis auf seine patriotische Verpflichtung abschließend für das Projekt gewinnen. 

Bourdelle konzipierte dann ein kolossales Projekt. Die Bronzestatue sollte neun Meter hoch und über drei Meter breit werden. Frankreich sollte hierbei durch eine Frauenfigur vertreten werden, die ihr Vorbild in der griechischen Kriegsgöttin Pallas Athene haben sollte. In einer aufrechten Haltung des Wartens geht ihr suchender Blick zum Horizont, um die erwartete Verstärkung zu erspähen. Athene ist als Kriegerin mit Lanze und Schild bewaffnet, die Olivenzweige, die sie trägt, sind Symbole der Friedfertigkeit Frankreichs, welches wider eigenen Willen in einen Krieg hineingezogen wurde. Ihr zur Seite steht die Schlange, welche sich beginnend bei ihrem Schild sich hinter ihrem Rücken windet, um sich dann zu ihrer Linken an einer Stele emporzuwinden. Die Schlange steht hier als Zeichen der Weisheit.

Von Madame Rhodia Dufet-Bourdelle, Tochter des Künstlers, ist überliefert, dass die Nichte des Bildhauers, Fanny Bunand-Sevastos, eine Frau von außergewöhnlicher Schönheit, hier als Vorbild der Frauenfigur diente. Für die Arme stand Florence Bryant Colby, die Sekretärin der Familie Bourdelle, Modell.

Bis zum Jahr 1948 entstanden zahlreiche Güsse dieser Plastik mit sehr wechselvoller Geschichte. An dem dafür ursprünglich avisiertem Ort wurde es nach meinen Erkenntnissen nie errichtet. Das in der Originalgröße gegossene Exemplar in Algier wurde 1948 als Symbol der Besetzung und Unterdrückung Algeriens durch Frankreich gesprengt und existiert nur noch in Fragmenten. Der letzte Guss wurde am 18. Juni 1948 auf dem Vorplatz des „Museum of Modern Art“ in Paris im Palais de Tokyo aufgestellt. Er erinnert an den Appell des Generals Edgard de Larminat vom 18. Juni 1940 an diesem Ort, der hier die Kämpfer der „Freien Französischen Streitkräften“ auf ihren Kampf gegen das Vichy-Regime und Nazi-Deutschland einschwor. Hier zeigt sich sehr schön die Ambivalenz der inhaltlichen Auffassung eines Denkmals, dessen historische Bedeutung im Kontext des Ortes seiner Aufstellung völlig gegensätzlich sein kann.

Von dieser Ambivalenz scheint das in Briançon aufgestellte Exemplar weitgehend frei zu sein, was wohl auch an seiner gänzlich anderen Geschichte liegt. Dieser kleinere Guss wurde verwendet, um den Eingang eines vom Architekten Huiliard entworfenen Buchpavillons zu schmücken, der im Rahmen der „Ausstellung für dekorative Kunst“ in Paris im Jahr 1925 errichtet wurde. Es war die Ausstellung, welche in Bezug auf das Interieur den Begriff des „Art-déco-Stils“ prägte. Nach dem Abbau dieser Ausstellung wurde die Plastik zerlegt und eingelagert, um später einmal in einem noch zu schaffenden Museum für dekorative Kunst einen Platz zu finden. Derart verwahrt entdeckte es Maurice Petsche, Staatssekretär für bildende Künste und Stellvertreter des Bezirks Briançon.  Nachdem er die Witwe des Künstlers für sein Vorhaben gewinnen konnte, erwarb die Statue für seine Stadt. Sie ist mit einer Höhe von vier Meter fünfundfünfzig kleiner als das Original und steht heute, wie von mir vorgefunden, auf einer Terrasse der Festung, der Blick hinab in das Tal der Durance gerichtet.

Ich habe die Statue in einer leicht verkanteten Perspektive fotografiert, so dass sie schräg nach rechts geneigt erscheint. Ursprünglich ging es mir vorrangig darum, die Dramatik der Statue in Verbindung mit dem Wettergeschehen in seiner Dynamik zu unterstützen. Später setzte sich bei mir zudem der Eindruck fest, dass sich auch der Held oder die Heldin, wohl selbst Götter, immer auf schwankendem und unsicherem Grund bewegen, die einen Sieg immer nur als möglich, aber nie als sicher erscheinen lassen. 

Michael Priebe, im April 2021